Was geschah nun in dieser ersten Phase des Club-Lebens? Man beschränkte sich nicht darauf, eine wohlklingende Satzung zu formulieren und hehre Ziele zu beschwören, sondern erhob von Anfang an die gemeinnützige Tat zum Maßstab. Einer der ersten Kontakte war hier die Verbindung zu der Städtischen Frauenklinik in Charlottenburg, die über deren ärztlichen Direktor Lf Felix von Mikulicz-Radecki zu Stande kam. Dieser konnte aus eigener Erfahrung von der Not alleinstehender Mütter berichten, die mit der materiellen Versorgung ihres Nachwuchses oft finanziell überfordert waren. Zu Weihnachten 1954 bewilligte der LC Berlin seine erste Weihnachtsspende an die Klinik, die in den folgenden Jahren zur Tradition werden sollte: Es wurde Säuglingswäsche erworben und an bedürftige junge Mütter verteilt. Der zweite damalige Activity-Schwerpunkt, der ebenfalls zu einer langjährigen Beziehung führen sollte, war die Unterstützung des Bundes der Späterblindeten. Hier folgte Berlin einer Tradition, die in den USA ihre Wurzeln hatte, denn auch der Chicagoer Ur-Club der Lions-Bewegung hatte sich seit jeher für Blinde eingesetzt. Die Berliner Lions spendeten alljährlich Stenomaschinen für Blindenschrift, riefen zu einer Sammlung von Radiogeräten auf und bestellten Blindenuhren, die in der Schweiz extra angefertigt wurden. Das Engagement für Späterblindete durch den Lions Club Berlin wurde in den 1950er Jahren sogar in einem Film von Lions International festgehalten, der verschiedene Wohlfahrts-Dienste der europäischen Clubs zeigen sollte.
Schon anhand dieser ersten frühen Activities lassen sich die wesentlichen Grundzüge der Lions-Hilfsmaßnahmen ablesen: Es sollte „Hilfe“ nicht bloß als Überweisung von Geldbeträgen auf fremde Konten verstanden werden. Hilfe im Lions-Sinn bedeutete in Berlin stets die Verschmelzung des materiellen mit dem persönlichen Einsatz. Deshalb bemühten sich die Lions-Mitglieder, möglichst immer selbst die Gegenstände auszuwählen und direkt zu überbringen, die bei Bedürftigen gebraucht wurden. In diesem Sinne war auch die in den 1950er Jahren übliche Ferienkinder-Verschickung eine wichtige Lions-Aktion. 1955 wurden in den Sommerferien 20 Ost- und Westberliner Kinder an Lions-Familien im gesamten Bundesgebiet verschickt. Etwa sechs Wochen lang konnten sich diese Stadtkinder im Schwarzwald, an der Nordsee oder auf der Schwäbischen Alb erholen und ein wenig Land- oder Seeluft schnuppern. Diese Aktionen wurden jährlich wiederholt und den Kindern die Einkleidungs- und Reisekosten erstattet.
Weniger reibungslos gelang dagegen Mitte der 1950er Jahre der internationale Austausch zwischen deutschen und anderen europäischen Lions-Kindern. Es zeigte sich, dass derartige Initiativen von deutschen Lions-Clubs auf reservierte Reaktionen stießen. Die deutsche Gesellschaft war ihren Nachbarn noch suspekt und gegenseitige Annäherungen vollzogen sich nur zögernd. Über dieses heikle Thema wurde damals in Lions-Kreisen viel diskutiert. In einem Sitzungsprotokoll des Lions Club Berlin vom November 1956 heißt es dazu: „Es ist bekannt, dass Holland, Belgien und Italien sehr zurückhaltend sind und dass wir generell als Deutsche mit manchen Antipathien zu rechnen haben. Diese Probleme werden auch nicht durch die Erhebung einer Umlage gelöst.“ Dieses Zitat ist bemerkenswert. Belegt es doch eine frühe Selbstreflexion über die problematische und belastete deutsche Vergangenheit in einer Zeit, von der der Philosoph Hermann Lübbe sehr zurückhaltend sagt, dass „... das deutsche Verhältnis zum Nationalsozialismus ... stiller war als in späteren Jahren unserer Nachkriegsgeschichte.“ In dieser Zeit des Verdrängens bestand bei den Lions ein Bewusstsein für die Dissonanzen, mit denen Deutschland in anderen Ländern konfrontiert wurde. Außerdem sah man, dass mit Geld zwar vieles zu lindern, aber noch lange nicht alles zu heilen war. Erst mit den Jahren stellte sich ein engerer Kontakt zu den Nachbarn her: Im Sommer 1958 nahmen die ersten Berliner Lions Kinder an einem Ferienaufenthalt in Frankreich teil, der durch die Initiative des Governors des Districts 103 Frankreich (Süd) ermöglicht worden war. Das war Völkerverständigung im Anfangsstadium.
Clubtreffen und Debatten
Eine wichtige Grundlage des Club-Lebens war (und ist) das persönliche Gespräch unter Lions Mitgliedern bei Clubtreffen und gemeinsamen Mahlzeiten. Man tauschte sich über aktuelle Themen und Debatten aus, wobei die beruflich heterogene Zusammensetzung des Clubs, dem höchstens zwei Vertreter einer jeweiligen Profession angehören sollen, dafür sorgte, dass unterschiedliche Perspektiven aufeinander trafen. Der gepflegte Dissenz war damit Programm – und ständige Bereicherung.
Doch neben den Kontakten im eigenen Club war vor allem die Beziehung zu anderen deutschen Lions Clubs wichtig. Allein bis 1956 hatte der junge LC Berlin bereits seinerseits die Patenschaften für vier Clubgründungen übernommen: Wilhelmshaven, Hannover, Oldenburg. Und auch für den ersten Lions Club des neuen Regierungssitzes, Bonn, stand die alte Hauptstadt Pate.
Die 1960er: Lions am „gefährlichsten Ort auf der ganzen Welt“ oder die Geschichte vom Mauerbau
Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Ereignisse nahm der LC Berlin gegenüber anderen deutschen Lions-Clubs bis zur deutschen Wiedervereinigung eine exponierte Rolle ein. Geteilt durch die bipolare Ordnung der Welt, war Berlin während der Zeit des "Kalten Krieges" eine Bühne des Mächtespiels zwischen Ost und West. Schon allein deshalb ließen es sich Präsidenten von Lions International bei Europa-Besuchen nicht nehmen, in der geteilten Stadt Zwischenstation zu machen.
Berlin hatte als Vorposten Symbolwert für den Westen. Umgekehrt war das ähnlich. Ebenso symbolisch wie obligatorisch waren die Solidaritätsbekundungen amerikanischer Lionsfreunde.
Von den zwei Ereignissen, die Berlin Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre erneut auf eine Zerreißprobe stellten, einerseits das Berlin-Ultimatum Chruschtschows, das die Stadt zum „gefährlichsten Ort auf der ganzen Welt“ erklärte und andererseits der Bau der Berliner Mauer, konfrontierte vor allem letzteres die Berliner Lions mit neuen Aufgaben. In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 begannen DDR-Soldaten und Arbeitsbrigaden, die Teilung der Stadt buchstäblich zu zementieren.